Die Frau auf der Parkbank

 

Annas Atem stockte, als sie die Frau auf der Parkbank sah. Es war so lange her und doch fühlte es sich an, als wäre seit damals kein Tag vergangen. Sie war erst seit gestern wieder in der Stadt. Hier war sie aufgewachsen und zur Schule gegangen. Hier hatte sie ihre Ausbildung gemacht, gewohnt und gearbeitet, Freunde und Bekannte gehabt, bis sie weggegangen war, fest entschlossen, nie wieder zu kommen. Mittlerweile waren zwei Jahre vergangen und Anna fühlte sich stark genug, ein Wochenende bei ihrer Freundin Jule zu verbringen. An diesem Morgen hatte sie sich allein auf den Weg gemacht, um all die Straßen und Ecken zu erkunden, die ihr einst so vertraut gewesen waren. Sie hatte bewusst die Straße gemieden, in der er früher wohnte und in der er, wie sie wusste, immer noch lebte. Obwohl sie ganz tief in ihrem Innern eine Sehnsucht spürte, die sie in seine Nähe trieb, hielt sie die schmerzende Stelle in ihrem Herzen davon zurück, zu seinem Haus zu gehen.

Dennoch war sie mit wachsamem Blick die Straßen entlang gelaufen, hatte mit klopfendem Herzen jedes Auto betrachtet und jedem Insassen forschend ins Gesicht geschaut. Dann war sie, müde vom Lärm der Straße, auf den Weg in den Park eingebogen. Hier waren die Geräusche der Straße kaum zu hören, der weiche Boden dämpfte den Klang ihrer Schritte, nur die herbstlich verfärbten Blätter raschelten unter ihren Füßen und ein Vogel sang zaghaft in dem fast schon kahlen Geäst der Bäume. Obwohl die Sonne noch mäßige Wärme spendete, blies der Herbstwind mittlerweile mit empfindlicher Kühle und Anna hatte die Hände in die Jackentaschen vergraben. Bereits aus einiger Entfernung hatte sie die Frau auf der Parkbank gesehen, doch erst beim Näherkommen überfiel sie eine Ahnung und sie verlangsamte ihren Schritt. Jetzt, nur ein paar Meter von der Bank entfernt, war sie sich sicher und blieb, von einem üppigen Rhododendronbusch zum Teil verborgen, stehen.

Obwohl sie sich nur einmal gesehen hatten, bei dem Gespräch in Annas Auto, nachdem damals alles herausgekommen war, hatten sich die Züge der anderen Frau tief bei ihr eingeprägt: die großen grauen Augen, die markanten Wangenknochen und die dunkelroten Lippen. Noch immer trug sie ihre blonden Haare kurz und noch immer hatte ihr kräftiger Körper ein paar Kilo zu viel. Sie las in einer Zeitung, die beiden Arme weit ausgebreitet, und blätterte gerade langsam um, wobei sie ihren rechten Zeigefinger mit Spucke anfeuchtete, ohne die Seite los zu lassen. Nun brachte sie ihr Gesicht ganz nah an das Papier, als würde die Brille, die sie trug, nicht ausreichen, um das Gedruckte zu lesen.

Annas Gedanken wirbelten durcheinander, sie schloss verwirrt ihre Augen. Der frische Wind fuhr durch ihre langen Haare und wehte einen Duft in ihre Nase, den Duft von Herbst mit einem Hauch von Sehnsucht und Erinnerung. Und plötzlich sah sie sich wieder zusammen mit ihr, mit der Frau auf der Bank. Auch damals war es Herbst gewesen, es hatte geregnet und ein eisiges Band von Traurigkeit hatte sich um sie geschlungen.

Hastig atmete sie den Duft aus sich heraus und öffnete ihre Augen. Sie saß noch immer auf der Bank, den Blick gespannt auf die Zeitung gerichtet, während sich vom anderen Ende des Weges ein Mann näherte. Anna erkannte ihn sofort. Sein Gang war noch immer leicht und federnd, sein Kopf mittlerweile fast kahl. Den Blick starr auf den Boden gewandt, erreichte er nun die Bank, sie schaute kurz von ihrer Zeitung hoch, er setzte sich, während sie weiter las, faltete seine Hände auf seinen Knien, legte den Kopf in den Nacken und hielt sein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Eine Windböe fuhr durch die Zeitung und bewegte die einzelnen Blätter hastig hin und her. Die beiden auf der Bank bewegten sich nicht.

Sollte sie ohne ein Wort, ohne einen Gruß an ihnen vorüber gehen? Oder sollte sie umkehren, sich wie damals unsichtbar machen?

Plötzlich richtete er sich auf, wandte seinen Kopf mit einem Ruck in Annas Richtung und schaute ihr direkt ins Gesicht.

„Ich werde dich immer finden, deine Nähe spüren. Ich wittere dich.“

Diese Worte hatte er gesagt, als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, einen Tag, bevor sie die Stadt verlassen hatte. Anna konnte die Konturen seines Gesichts nicht genau sehen, doch sie kannte das intensive Blau seiner Augen und jeden einzelnen der kleinen, dunkelgrauen Sprenkel darin. Sie wusste, wie exakt seine lange Nase geschnitten war, sie kannte seine wohlgeformten Lippen, die untere etwas voller als die obere, die sich immer ein wenig zur Seite schob, wenn er eindringlich erzählte.

Nun rückte er weiter nach vorn auf der Bank, während er noch immer zu Anna hinüber starrte. Sie blätterte eine neue Seite um, den Blick fest auf die Zeitung gerichtet. Eine Ewigkeit verging, während seine und Annas Blicke in einander versanken, so wie sie es früher getan hatten, in einer anderen Zeit. Und plötzlich roch sie wieder seinen Atem, während er von Liebe und einem gemeinsamen Leben flüsterte, spürte den Geschmack seiner Zunge, die sich an ihren Gaumen presste. Sie fühlte seine tiefe Stimme auf ihrer Haut, spürte seine Arme, die ihren Körper umschlangen, seine Lippen, die auch die verborgenen Stellen ihres Körpers zum Glühen brachten, seine Hände, die ihr ganzes Sein aufwühlten, fühlte wieder sein zärtlich ungestümes Eindringen, das bis in die Tiefe ihrer Seele floss – bis sie endlich auch der Schmerz erreichte, die Leere und Trauer, und ihr eine schwarze Welle der Leblosigkeit den Atem raubte.

„Ich kann sie nicht verlassen.“

Seine Worte hatten sie damals sterben lassen. Und sie hatte trotzdem überlebt. Anna taumelte nur einen kurzen Moment, atmete hastig die Sehnsucht weg, stieß die zähe, schwarze Wut in heftigen Stößen aus ihrem Mund, während sie gierig die reine Luft des Herbstes in ihre Lungen pumpte.

Er sah noch immer herüber und es schien ihr, als wollte er sich von der Bank erheben. Schnell straffte sie ihren Körper, zog ihre Hände aus den Jackentaschen und spreizte die zu Fäusten geballten Finger. Die Füße verankert auf dem Boden, eingebettet in das bunte herbstliche Laub, holte sie der kühle Wind, der durch ihre Haare strich, endgültig zurück ins Hier und Jetzt. Sie warf einen letzten Blick auf die Frau mit der Zeitung, die noch immer auf die geschriebenen Wichtigkeiten starrte, streifte kurz die angespannte Statur daneben, löste ihren Blick von den zwei Gestalten auf der Bank und drehte sich um. Mit festem Schritt ging Anna den Weg zurück, ohne sich noch einmal um zu drehen.

 

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